Nachbericht: Podiumsdiskussion zum Themenkomplex Antiziganismus

Gedenkstätte Neustadt
22.4.2024

Am vergangenen Sonntag, den 14.04.2024 um 11 Uhr, fanden sich 18 interessierte Personen in den Räumlichkeiten der Gedenkstätte ein, um die Podiumsdiskussion zum Thema „Geschichte, Funktionen und Folgen von Vorurteilsstrukturen am Beispiel des Antiziganismus“ zu verfolgen.

Als Diskutierende nahmen Jacques Delfeld (Geschäftsführer des Landesverbands deutscher Sinti und Roma in Rheinland-Pfalz), Dr. Laura Tittel (Politikwissenschaftlerin an der Justus-Liebig-Universität Gießen) und Thomas Wagner (freier Publizist) teil. Moderiert wurde die Podiumsdiskussion von Prof. Oliver Eberl (Politikwissenschaftler an der Philipps-Universität Marburg) und Jan Wiese (Gedenkstätte für NS-Opfer Neustadt e.V.).

Die Diskutierenden haben den Komplex des Antiziganismus entsprechend ihrer unterschiedlichen Zugänge und wissenschaftlichen Disziplinen aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und dem Publikum so einen breiten Einblick in das Feld des Antiziganismus und den vorkommenden Diskriminierungsformen ermöglicht.

Zunächst sind die historischen Bedingungen beleuchtet worden, unter denen das „Zigeuner“-Feindbild entstanden ist. Dr. Laura Tittel hat hierbei auf die Rolle des Kapitalismus, der Aufklärung und der Staatenbildung dargestellt. So hat die philosophische Aufklärung und das Ideal des neuen (Staats-)Bürger*innentums bereits die Grundlage zur Ausgrenzung von denjenigen geliefert, die diesen Idealen und Normen angeblich nicht entsprochen haben. Historisch hat sich so die Möglichkeit für Akteure, wie bspw. Kirchen und den entstehenden Nationalstaaten geboten, vom Einsatz des Feindbildes zu profitieren und vermeintliche Normverstöße als verächtlich darzustellen. An dieser Stelle hat Jacques Delfeld über die Konstruktion des Feindbildes als Form eines „Grenzziehungsprozesses“ gesprochen, welcher innerhalb der Gesellschaft Macht verteilt und somit den Zugang zu Ressourcen beeinflusst.

Einen wichtigen Beitrag zur positiven Diskriminierung hat Thomas Wagner geliefert, indem er ein romantisierendes „Zigeuner“-Bild kritisiert hat, welches die Menschen als „naiv, fröhlich und naturverbunden“ beschreibt; letztendlich handelt es sich erneut um einen Vorgang der Dehumanisierung, da mit dem Ideal belegte Menschen – ähnlich wie indigene Gruppen – als „auf einem niedrigeren Entwicklungsstand“ lebend und zum „Aussterben Verurteilte“ abgewertet werden. Auch in diesem Fall wird über den Willen der Menschen hinweggegangen und ihnen wird die Fähigkeit zur selbstbestimmten Lebensgestaltung abgesprochen.

Diese, in beiden Fällen als „othering“ bezeichneten Diskriminierungspraktiken, stellen nicht nur eine Homogenisierung von höchst vielfältigen, von Antiziganismus betroffenen Menschengruppen dar (bspw. Sinti, Roma, Jenische, sog. Traveller, aber auch in Armut lebende soziale Gruppen), sondern auch wichtige Grundlagen für die Verfolgung und den Genozid an Sinti und Roma im deutschen Faschismus. In der Ideologie der Nazis sind Sinti und Roma als „rassisch minderwertig“ und aufgrund dessen als „lebensunwert“ betrachtet worden. Dieser biologistische und rassifizierende Aspekt ist sowohl als charakteristisch für den Faschismus herausgestellt, als auch entschieden zurückgewiesen worden.

Im Verlauf der Diskussion stellte Jacques Delfeld zudem die wichtige Frage: „Was sind die realen Menschen und was ist das Klischee?“ Hiermit hat er die Zuhörenden für den Unterschied zwischen real existierenden ethnisch-kulturellen und sozialen Gruppen einerseits und dem als Feindbild geschaffene Konstrukt der „Zigeuner*innen“ andererseits sensibilisiert. Letztendlich handelt es sich bei zweiteren um eine reine „historische Figur, Metapher und Schicksalswerkzeug“. Mit anderen Worten; Es handelt sich um eine Imagination, die keine reale Entsprechung haben.

Dies sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es aufgrund der Verwendung des Feindbildes noch immer zur Diskriminierung von Menschen kommt, in Deutschland ebenso wie in anderen Regionen der Welt, wie bspw. Osteuropa. Diese weite Verbreitung unterstreicht die Aktualität und Bedeutung der Bekämpfung und Überwindung des Antiziganismus. Im Rahmen der Podiumsdiskussion ist wichtige Aufklärungsarbeit geleistet worden, die es für diese Aufgabe braucht. Ohne Erinnerung, Bildung und Dialog können Diskriminierungsformen wie der Antiziganismus letztendlich nicht überwunden werden.

Die Gedenkstätte bedankt sich bei den Teilnehmer*innen der Podiumsdiskussion, beim Verein Nomadenpress und bei allen interessierten Zuhörer*innen.